Humanistische Manifeste

Prof. Dr. em. Willem Elias                                    November 2021

2013 veröffentlichte der Archäologe Dean Snow von der Pennsylvania State University in National Geographic [1] die wissenschaftliche These, dass der größte Teil der Handabdrücke in prähistorischen Höhlenmalereien von Frauen stamme. Natürlich gibt es Skeptiker, die diese Interpretation anzweifeln, das ist in der Wissenschaft nun einmal so. Annahmen über den Ursprung prähistorischer Kunst variieren von der mentalen Vorbereitung auf die Jagd bis hin zu Versuchen, die Götter durch Rituale gnädig zu stimmen und auf diese Weise Erfolg bei der in der damaligen Zeit sicher wichtigsten sozialen Beschäftigung herbeizuführen. Dass dabei nun auch die Beteiligung von Frauen berücksichtigt wird, ist im feministischen Kampf schon für sich ein Schritt nach vorn. Vermutlich ist die Religion oder das psychische Bedürfnis danach der Ursprung aller Formen von Kultur wie Sport oder Kunst. Alle von den ältesten bekannten Felszeichnungen ausgehenden Erkenntnisse darüber, wer die ersten Künstler waren, bleiben reine Vermutung. Gezeichnet wurde lange, bevor die Schrift erfunden wurde. Auf prähistorische Kunstwerke mit erläuternden Texten werden Archäologen eher nicht stoßen. Ob die Argumente von Dean Snow stichhaltig sind oder nicht, ändert daran nichts. Doch dass die gedankenlose Unterstellung, die Künstler seien Männer gewesen, infrage gestellt wird, ist auf jeden Fall bedeutsam.


Dass diese prähistorischen Werke mit moderner und zeitgenössischer Kunst in Verbindung gebracht werden, ist bemerkenswert. Es ist gerade so, als habe die heutige Kunst ihren Ursprung neu entdeckt. Moderne Kunsttheorien über das Expressive, das Spontane und selbst das Abstrakte scheinen bereits in der Vorgeschichte Methode gewesen zu sein. Die Abrechnung mit der alten Kunst in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts scheint sich also nicht auf jene Periode zu beziehen, sondern auf die historische Entwicklung, in der die Kunst akademisch wurde und in Akademien gelehrt werden konnte, zum Beispiel in der Philosophenschule Platos. Dieser Zusammenhang ist kein Zufall. Der Westen ist platonisch geblieben und hat eine Kunst entwickelt, die durchdrungen ist von der rationalen Betrachtung und dem Willen, statt der sichtbaren Realität mit ihrer Verschiedenheit an Wahrnehmungen und Interpretationen ein gedachtes Ideal abzubilden. Nietzsche nannte in diesem Zusammenhang den Begriff der Dekadenz, dem er die dem gemeinsprachlichen Gebrauch entgegengesetzte Bedeutung des Verfalls verlieh. Für Nietzsche war Sokrates dekadent, weil er die Vorstellung einer Welt verfocht, die über den Verstand begriffen werden kann [2]. Er negierte das nach Nietzsche notwendige Gleichgewicht zwischen dem Appolinischen und dem Dionysischen, zwischen Vernunft und Rausch, zwischen Verstand und Gefühl. In der Zeit von Sokrates (469–399 v. Chr.) kam dies gleichwertig in den alten griechischen Tragödien von Aischylos (525–456 v. Chr.) und nicht minder denen von Euripides (480–406 v. Chr.) zum Ausdruck, wo die rationale Deutung die Überhand gewann. Ich mache diesen Exkurs in die Theatergeschichte nicht ohne Grund. Mir scheint, dass das Tragische im Werk von Ulrike Bolenz ein gutes Gleichgewicht zwischen Verstand und Gefühl behält. Sie dramatisiert nicht, sondern sie legt ihren Finger in die Wunde des menschlichen Verhängnisses, das ihm nicht von Göttern, sondern durch das zufällige Zusammentreffen von Umständen auferlegt wird.


Man darf es den Philosophen nicht übel nehmen, dass sie, die nicht durch sichere wissenschaftliche Erkenntnisse eingeschränkt wurden, eine Metaphysik der Entstehung der Kunst entwickelten. So zum Beispiel Georges Bataille (1897–1962), der – übrigens in den Fußspuren Nietzsches – den Entstehungsprozess des menschlichen Drangs zur produktiven Schaffung von Bedeutung betonte, ohne den vermutlich religiösen Ursprung zu kennen. Er sah darin die Geburt eines neuen Menschen, der nicht nur Werkzeuge herstellte, um zu überleben, sondern der sich auch die Zeit nahm, die Jagd spielerisch darzustellen [3]. Dass die Frau bei dieser kulturellen Erneuerung eine wichtige Rolle gespielt hat, ist für die Emanzipation eine gute Nachricht. Der Titel des Buchs „Homo ludens“ von Johan Huizinga (1872–1945) kann natürlich nicht als „Der spielende Mann“ übersetzt werden, aber aufgrund der Zweideutigkeit des französischen homme wird man vielleicht nicht unmittelbar an eine Frau denken. Wer Mensch hört, stellt sich oft einen Mann vor. Noch nie wurde an der weiblichen Fähigkeit, die Wohnumgebung angenehmer zu gestalten, gezweifelt, aber ob Frauen deshalb an den Herd gekettet werden mussten, ist eine ganz andere Frage. Die Überführung des sakralen Ursprungs der Kunst in das profane Bedürfnis nach angenehmen Sinnesreizen ist natürlich Blasphemie.


Vor Kurzem habe ich noch einmal Bruno Nuyttens Film von 1988 über Camille Claudel (1864–1943) gesehen, eine Märtyrerin der Unterdrückung als Künstlerin in einer Männerwelt. Vom Außerachtlassen der Möglichkeit, dass spätsteinzeitliche Felszeichnungen auch von Frauenhänden geschaffen wurden, bis zur Einweisung einer Bildhauerin mit einem großen Naturtalent in ein Irrenhaus (noch dreißig Jahre, nachdem Psychiater ihr die Genesung bescheinigt hatten), ist es ein viel zu langes Kapitel in der Geschichte der gesellschaftlichen Repression der Frau.

Ulrike Bolenz wird auch in einem anderen Buch zitiert, in dem es um die Hoffnung geht, die von den Signalen für einen Wandel hin zu einer frauenfreundlichen Kunstwelt ausgeht [4]. De facto ist Bolenz eine Feministin, nicht verbal oder fahnenschwenkend auf Demos, sondern durch ihr künstlerisches Wirken. Als ich den Artikel über die Beteiligung von Frauen an den Höhlenmalereien las, musste ich an sie denken. Ich stelle sie mir in einem an Wilma Feuerstein erinnernden Outfit vor, wie sie voller Begeisterung die Mauern von Steintal mit Malereien versieht. Als ich den Film über Camille Claudel sah, dachte ich auch immer wieder daran, mit welcher Leidenschaft Ulrike Bolenz mit ihrer Kunst umgeht. Zum Glück verdorrte Claudel nicht im Schatten eines wuchernden Baums wie Rodin einer war. Bolenz’ Ausbildung in Kassel verlief weniger turbulent. Sie genoss eine solide technische Ausbildung und Dozent Tom J. Gramse (1940–1982) verschaffte ihr künstlerische Inspiration.


In erster Linie ist sie eine waschechte Malerin, eine wirkliche „Farbenfresserin“, die nicht nur mit dem Pinsel, sondern auch mit Händen und Füßen malt. Sie ist selbst ein Pinsel, der irritiert und kitzelt. Auf „Europa entsteigt den Fluten“, einem Selbstporträt, sitzt sie auf einem Riesenhummer. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Krustentier ein Teil des „Selbst“ auf dem Selbstporträt ist und dass Bolenz so malt, wie ein Hummer seine Beute verschlingt, ohne jegliche Tischmanieren.

Diese authentische Art der Malerei wird am besten in ihren großformatigen Porträts sichtbar. Sie ist eine begnadete Porträtmalerin und erhält regelmäßig entsprechende Aufträge. Eine schöne Anekdote ist in diesem Zusammenhang das offizielle Porträt des Rektors der KU Leuven, Prof. Rik Torfs, das sie nach dessen Amtszeit anfertigen durfte. Wenn man versuchte, ihm ein Urteil über das Porträt zu entlocken, murmelte der für seinen trockenen Humor bekannte Professor: „ein sehr schönes Bild, aber ein schwieriges Motiv“. Porträts haben immer mit der Frage zu kämpfen, wie viel Ähnlichkeit der Auftraggeber erwartet. Sie eignen sich weniger, die ästhetischen Regeln eines Künstlers zu ergründen. Der offizielle Aspekt bringt es mit sich, dass es das öffentliche Interesse ist, ggf. noch betont durch die Darstellung äußerlicher Symbole, das den Tenor der Bildrhetorik bestimmt, nicht die Authentizität der Innenwelt des subjektiven Menschen.

Bei der Betrachtung des beeindruckenden Porträts ihres Vaters gewinnt man einen besseren Eindruck von der Malkunst von Ulrike Bolenz. Hier hat sie nicht nur einfach ihrem geliebten Vater als altem Mann eine Hommage erwiesen, sondern sie hat gleichzeitig, Pars pro Toto, einen Teil der Menschheit gemalt. Jede sich aus der Vater-Tochter-Beziehung ergebende Anekdotik wurde weggelassen. Man spürt die reine, bewundernde Ehrerbietung eines Menschen und einer Künstlerin für eine fesselnde Persönlichkeit, der die Spuren eines intensiven Lebens wie eine geografische Generalstabskarte ins Gesicht geschrieben sind. Über meine Schulter blickt Emmanuel Lévinas (1906–1995) mit auf das Bild. Dieser französisch-jüdische Philosoph hat eine Theorie entwickelt, der zufolge das Gesicht nicht nur, gleich einem Passfoto auf dem Personalausweis, das Wiedererkennen ermöglicht, sondern auch das Erkennen des Seins des Anderen. „Das Antlitz macht die sinnliche Konkretheit aus und ist absolut einzigartig für den der Verletzlichkeit seiner Haut ausgesetzten Existierenden“, um es in den Worten des Phänomenologen selbst zu sagen [5]. Lévinas schreibt, dass die Begegnung mit dem Antlitz des Anderen von kulturellen und historischen Kontexten losgelöst sei. Man sehe im Antlitz nicht an erster Stelle nur den bejahrten weißen Mann, sondern man werde des Seins eines Anderen gewahr. Das Antlitz, so Lévinas, steht immer außerhalb des Kontexts. Im Falle des von Bolenz gemalten Porträts geht die Wahrnehmbarkeit des Menschseins dem Kontext der Vaterschaft voran. Der Bezug zur Haut ist hier für einen Maler natürlich ein Geschenk. Ulrike Bolenz kann der Liebe für Farbe und ihrer sehr besonderen Palette frönen, um sich den Anderen, der ihr Vater ist, in einer bildlichen Interpretation seines Menschseins zuzueignen. Der Körper als Anknüpfungspunkt für das sich seiner Umwelt (im heideggerschen Sinne) bewusst werdende Selbstbewusstsein ist bei Bolenz nicht auf das Antlitz beschränkt. Lévinas Denken ist letztlich eine christliche Auslegung des Existenzialismus, er verortet die Seele im Antlitz. Für Bolenz hingegen ist der ganze Körper beseelt. Ihr Bild „Séduction“ geht nicht auf die „Versuchung des heiligen Antonius“ zurück, wie sie in der Kunstgeschichte von mehreren Großmeistern bis hin zu Salvador Dali (1946) dargestellt wurde. Die dargestellte Nackte synthetisiert die zwischenmenschliche Dialektik zwischen dem Verführen und dem Verführtwerden. Doch umarmt der begehrende, wollüstige Leib mit selig-orgiastischem Blick ein Skelett. Der Topos des Memento mori verpasst dem Verlangen des Eros einen Dämpfer. Die Gestalt ist gleichzeitig eine Metapher für den Maldrang selbst, und selbst Thanatos ist nicht fern. „Indem der Maler der Welt seinen Körper leiht, verwandelt er die Welt in Malerei“ [6], so Maurice Merleau-Ponty, der den Blick für eine Annäherung an Ulrike Bolenz’ Werk besser öffnet als Lévinas. Davon abgesehen sprach er über den Geist, nicht über die Seele.


Ulrike Bolenz ist eine überzeugte Humanistin in der vollen geschichtlichen Bedeutung des Begriffs. Mit einiger Regelmäßigkeit kommt sie auf den vitruvianischen Menschen zurück, die Zeichnung von Leonardo da Vinci, mit der er die von dem antiken Humanisten Vitruv in seinem Werk „De Architectura“ beschriebenen Körperproportionen des Menschen darstellt. Die Renaissance stellte den Menschen als „Maß aller Dinge“, wie sich der Sophist Protagoras zu Zeiten der griechischen Aufklärung im fünften vorchristlichen Jahrhundert ausdrückte, in den Mittelpunkt des Kosmos.


Auch zwischen dem neuen Humanismus und dem Œuvre von Ulrike Bolenz gibt es Verbindungen, die sich in dem Satz „Nichts Menschliches ist mir fremd“ des römischen Komödiendichters Terenz („der Afrikaner“) oder in der seines Kollegen Plautus entlehnten Sentenz „Homo homini lupus“ zusammenfassen lassen.

Was der Mensch dem Menschen anzutun wagt, wurde im Zusammenhang der beiden Weltkriege im vorigen Jahrhundert nur allzu deutlich. Der Gedanke Heraklits, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, war nun kein Trost mehr für die Philosophen. Adorno bezweifelte sogar, dass man nach Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben könne. Das Modell der Vergänglichkeit des Menschen wurde abgelegt. Seine Verletzlichkeit war natürlich eine Folge der Wunden durch das In-die-Welt-geworfen-Sein, wie Martin Heidegger sich auszudrücken pflegte. Ihm nachfolgend formulierte Jean-Paul Sartre, der Nachkriegsphilosoph par excellence: „L’existentialisme est un humanisme.“ Ihm zufolge muss die grundlegende Sinnlosigkeit über die Suche nach einem Lebensprojekt überwunden werden. Seine Vision einer Freiheit, die eine engagierte Verantwortung impliziert, ist im Werk von Ulrike Bolenz ein konstantes Thema. Interessant ist auch, dass das Lachen des Dichters hier erhellender zu sein scheint als die Träne des Philosophen.


Bolenz ist auch empfänglich für die neueste Dimension des Humanismus, die die zentrale Stellung des Menschen in der Natur gegenüber den anderen Tieren infrage stellt. Darüber hinaus geht es wohl auch um eine Vermummung des weißen Mannes. In Bolenz’ Version ist der vitruvianische Mensch nicht von Kreis und Quadrat eingeengt, sondern von konzentrischen Kreisen umgeben, sodass der Körper sich in die ganze Welt ausdehnt.

Neben einer feministischen Korrektur sendet sie auch Signale für Entkolonialisierung, Rassengleichheit und Nachhaltigkeit. Ihr Glaube an die Gleichheit aller Menschen ist die einzige Bedeutung, die man der Nacktheit vieler ihrer Figuren zuschreiben darf: naturalistisch, nicht erotisch.

In ihrem Werk „Séduction“ geht es nicht um Handlungen, die in kommerzialisierter Form Prostitution und unter prüden Moralvorstellungen Sünde sind. Das Gegenteil davon, eine Ode an die sexuelle Lust, wie sie die sexuelle Revolution in den 60er- und 70er-Jahren erlebt hat, ist es jedoch auch nicht. Stattdessen ist es ein Eintreten für die durch den Körper symbolisierte Freiheit, wie man sie bereits in der libertinistischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts in Wort und Bild antrifft. Auch in „Liegende“, einer Masturbationsszene, geht es nicht um exhibitionistische und voyeuristische Lust, sondern um die Freiheit des Verlangens. Sie zeigt uns die Essenz der Freiheit über die körperliche Selbstgenügsamkeit, bei der nicht per se andere zur Beteiligung aufgefordert werden. Das „Selbst“ der Autoerotik ist dasselbe „Selbst“ wie bei der Autonomie, der Selbstbestimmung. Das Schlüsselloch ist hier nicht das Visier für die heimliche Beobachtung, sondern der offene, unverschämte Blick auf den weichen Kern der Lust. Auch ist es dasselbe „Auto“ wie in Automobil: der Selbstfahrer. Als Europa reitet sie den roten Hummer, mit dem sie eins ist. Dies ist nicht die Identifikation eines Machos mit seinem Prestigeschlitten, sondern Europa zieht ohne Großtuerei als Kreuzritterin für weibliche Ideale in den Kampf. Die Künstlerin erzählt eine Jeanne-d’Arc-Geschichte.


Bei Lichte besehen bleibt Bolenz’ Lebenseinstellung aufs Engste mit der Phänomenologie, der philosophischen Haltung verwandt, die mit der existentiellen Problematik verbunden ist. Das „Ich“ ist ein Subjekt mit eigener, durch die Vielschichtigkeit der Lebenserfahrungen gespeister Authentizität. Mit diesem intentionellen Blick wird die Welt als Objekt betrachtet, um sich der Essenz der Dinge bewusst zu werden. Gemäß dieser Philosophie, partim esthetica, ist es die Aufgabe des Malers, dies hervorzuheben, und genau das tut Ulrike Bolenz.

Als sie Ende der 70er-Jahre in die Schule ging, standen Foto- und Hyperrealismus in der Blüte, wenn man nicht gerade mit Konzeptkunst experimentierte. Beide Felder lassen sich übrigens miteinander aussöhnen, insofern als diese Art des Realismus eine Selbstreflexion der Malerei war. Kunsttheoretiker wie Ernst Gombrich (1909–2001) und Nelson Goodman (1906–1998) hatten kurz zuvor die Augen des Betrachters geöffnet, indem sie behaupteten, dass es so etwas wie „Realismus“ in der Kunst tatsächlich nicht gebe. Kunst sei Illusion, sagte Ersterer, und Kunstwerke seien „ways of worldmaking“, so der Zweite. Beide wollten damit sagen, dass ein Bild stets eine Konstruktion der Wirklichkeit ist, die als Realismus interpretiert werden kann. Dieser jedoch sei offen, wie Umberto Eco (1932–2016) ergänzte, und darüber hinaus laut John Berger (1926–2017) auch ideologisch.

Die genannten Theoretiker haben es jedoch nicht verhindert, dass Ulrike Bolenz alle Fertigkeiten erworben hat, um Gleichnisse sprechen lassen zu können. Ihre frühen Werke dürfen als sehr realistisch bezeichnet werden. Ich begebe mich nicht gerne auf das glatte Eis, zu sagen, dass das Blut des Künstlers mit dem Boden verbunden ist. Als Kulturrelativist vermeide ich auch das Wort „universell“ lieber, außer in Bezug auf das Universum. Vielleicht hat der Stil von Ulrike Bolenz etwas Deutsches, was ich nicht wahrnehme. Sie hätte auch eine Schülerin von Jan Burssens (1925–2002) sein können. Die Konzeptuellen haben im Flandern der 70er-Jahre keine Wertschätzung erfahren. Es wurde eine Art Pop-Art gemalt, die als „neue Figuration“ bezeichnet wurde. Als Anfang der 80er-Jahre mit den Neuen Wilden in Deutschland und der Transavanguardia in Italien der Aufbruch in der Malerei begann, malte man nach dem Motto „Wir hatten also Recht“ einfach weiter. Einen Bruch zwischen den expressiven Malern der 70er-Jahre und dem, was man Anfang der 80er-Jahre vereinfachend als „Neoexpressionismus“ bezeichnete, gab es jedoch. Dieser hat seinen Namen durch die Ergänzung von „Avantgarde“ um die Vorsilbe „trans“, im Sinne von „vorbei, überwunden“, bekommen. Dieser Neoexpressionismus ist daher kein Wiederaufleben des alten Expressionismus, sondern ein postmoderner Startschuss, ab dem keine exklusiven modernistischen Reinheitsgebote mehr geduldet werden und in allen möglichen Stilen gleichzeitig Kunst geschaffen wird.

An dieser Entwicklung war auch Ulrike Bolenz beteiligt. Ihre realistischen Figuren baden in einer expressiven Welt, mit impressionistischer Farbgebung und zusätzlichen Kontexten durch surreale, traumhafte Fantasien. Die Objekte in ihren Kompositionen haben Bedeutungen, wie man sie auch im Symbolismus findet. Ihr Hummer ist nicht Teil eines Seestücks, sondern Sinnbild für gepanzerte Kampflust. In den Installationen wird die Welt aus der Perspektive einer kubistischen Mannigfaltigkeit betrachtet. Ihre Mitwirkung im Innovationszentrum „Living Tomorrow“ ist ein Fingerzeig in Richtung Futurismus. Stilreinheit ist die letzte ihrer Sorgen.
Hauptausgangspunkt für die Beobachtung der Welt bleibt stets die bereits erwähnte Körperlichkeit, nicht um die Welt nachzuahmen, wie der vermeintliche „echte“ Realismus, sondern um sie zu interpretieren. Hier hängt Nietzsches Gedanke, dass alles interpretierbar sei, in der Luft. Sie eignet sich eine Welt an, indem sie ihr Bedeutung zuweist – die neutrale Objektivität kann ihr gestohlen bleiben. Der Hyperrealismus, die durch das fotografische Objektiv abgebildete Realität, hat sie nie interessiert, auch wenn dies die während ihrer Ausbildung führende Strömung war. Alles zusammengenommen ist der Fotorealismus eine Form der konzeptuellen Malerei. Der Neoexpressionismus, den die Neuen Wilden Anfang der 80er-Jahre anstießen, war somit auch ein Stimulans für Bolenz’ eigene expressive Befreiung, ohne dass sie selbst auf den Erfolgszug aufsprang. Wild genug, um zu den Neuen Wilden gehören zu können, war sie sicher, aber der Schematismus der Bewegung lag ihr nicht. Sie entschied sich, das „naturgetreue“ Element in ihrem Werk zu entwickeln, bei dem das Hauptelement in ihren eigenen Worten als „treffende Umsetzung der Interpretation des Gesehenen“ dargestellt wird. Hiermit passt sie perfekt in das Denken von Merleau-Ponty, der der Kunst genau die Fähigkeit zuschreibt, dem „l’invisible“ im Sichtbaren Bedeutung zuzuschreiben. Eine große Affinität hat sie zur einzigen Frau der Neuen Wilden, Elvira Bach (geb. 1951). Deren Werke zeigen eine Verwandtschaft mit dem, was Yvan Theys (1936–2005) und andere in den 70er-Jahren in Flandern machten. Ich habe bereits auf die Erscheinung der „neuen Figuration“ in Flandern hingewiesen, die zwar als eine Art Pop-Art durchging, aber bereits die Merkmale des späteren Neoexpressionismus in sich trug. Ein Paradebeispiel dafür ist zum Beispiel Fred Bervoets (geb. 1942). Ulrike Bolenz nutzt dieses lockere Malen aus dem Handgelenk nur, um einen bildlichen Kontext zu schaffen, der die chaotische Vergänglichkeit der Existenz heraufbeschwört. Als Randnotiz zu den vorbereitenden Notizen zu diesem Artikel hatte ich den Namen „Kiefer“ notiert. Bolenz bestätigte mir, dass dieser Maler und Bildhauer, der durchweg zu den Neuen Wilden gezählt wird, auf der Liste der von ihr geschätzten Künstler (ein wahres Musterbuch für die ästhetische Einordnung eines Künstlers) einen wichtigen Platz einnehme. Auch Anselm Kiefer (geb. 1945) folgt nicht dem Schematismus, den keiner so weit trieb wie A. R. Penck (1939–2017), der dadurch in die Nähe von Graffiti und ethnischen Zeichnungen außereuropäischer Kulturen kam. Kiefer und Bolenz bleiben innerhalb der westlichen Ikonologie der kreativen Zerstörung, nicht der des afrikanisierenden Primitivismus. Kiefers Bilder, voller Chaos und visueller Echos eines Weltkriegs, sind auch keine Form der „wilden“ Malerei. Er ist ein Meister der Darstellung der globalen Zerstörung durch Kriegsereignisse.

Ein Werk von Ulrike Bolenz, bei dem sich diese Reminiszenz auftut, trägt den Titel „Der ewige Mensch“. Die Beresina, ein Fluss in Russland, steht in der Militärgeschichte für verlorene Feldschlachten. Sowohl die Truppen von Napoleon als auch die von Hitler haben hier eine Niederlage erlitten. Bei Ulrike Bolenz ist die Beresina ein Symbol für die Gräueltaten auf allen historischen und gegenwärtigen Schlachtfeldern der Welt. Der Fall der Berliner Mauer war ein menschlicher Höhepunkt eines herzlichen Wiedersehens, aber kein Endpunkt für unmenschliches Kriegsgeschehen. Die Trauer darüber taucht in ihrer Thematik regelmäßig als Protest einer engagierten Künstlerin auf.


„Der ewige Mensch“ ist ein Beispiel für eine andere Art von Medium. Neben Werken mit herkömmlicher Farbe auf zweidimensionalem Träger fertigt Ulrike Bolenz kontinuierlich auch Mixed-Media-Werke und Installationen an, bei denen sie sich in einer dritten Dimension äußern kann. Sie nutzt fotografische Techniken und Polycarbonatträger. Mitunter fügt sie auch Objekte hinzu. So erkennt man in „Der ewige Mensch“ kleine Stacheldrahtstücke. Der Amerikaner Joseph F. Glidden (1813–1906) hat den Stacheldraht, zu dem er sich von Dornensträuchern hat inspirieren lassen und der die intensive Viehhaltung erst möglich gemacht hat, 1873 zum Patent angemeldet. Eine militärische Verwendung hat er dabei sicher nicht im Sinn gehabt. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs wurde Stacheldraht erstmals zur Verteidigung verwendet. Seit 2011 wird für ein Verbot von Stacheldraht an Pferdeweiden plädiert. Ob beabsichtigt wird, dieses Verbot auch auf moderne Konzentrationslager auszuweiten, ist mir nicht bekannt. Wie dem auch sei: Das Vorhandensein von Stacheldraht im Werk von Ulrike Bolenz lässt keinen Zweifel über ihre Sorge im Hinblick auf die andauernde Repression. Es ist spannend, zu sehen, wie sie das traditionelle Medium nicht mit neuen Medien mischt, sondern es um diese neuen Medien ergänzt, die die postmoderne Wendung der 80er-Jahre überdauert haben. Der Postmodernismus verweigerte sich den strikt ausschließlichen Prinzipien des Modernismus. Die hybride Kreuzung hat zu manchem Eintopfgericht geführt, eines schmackhafter als das andere. Ulrike Bolenz ist dem Prinzip, das der italienische Ästhetiker Cesare Brandi (1906–1988) „Le due vie“ [7] genannt hat, ungestört gefolgt. Einer dieser Wege ist die Suche nach dem Wesen des existentiellen Zustands des Menschen über eine klassisch gewordene Malerei. Der andere beinhaltet ein Experiment mit Elementen im Raum und einer Vielfalt an Materialien. Recht außergewöhnlich ist, dass es ihr gelingt, hier keine Spaltung entstehen zu lassen. Ulrike Bolenz gibt es nicht zweimal – es gibt nur eine einzige, oder besser sehr viele, die jedoch alle denselben Nenner haben. Der zweite Weg, den Bolenz eingeschlagen hat, spielt mehr mit dem Gegencharakter von kulturellen Produkten und Situationen. Konnotationen haben die Oberhand über Denotationen. Das Beispiel des Stacheldrahts habe ich bereits angeführt, aber diese zweite Herangehensweise lässt nahezu alle Interpretationsmöglichkeiten zu, zum Beispiel anhand von Stilfiguren wie „Pars pro Toto“ – ein Teil steht für das Ganze. Merkmal eines Zeichens ist, dass es auf etwas verweist, das nicht „ist“. Dabei wird vorausgesetzt, dass man das Kunstwerk nicht als direkte Erfahrung, sondern über den Kontext indirekt interpretiert. Eine weitere Folge ist die Zweideutigkeit durch die Trennung zwischen der Bedeutung des Zeichens und seinen formalen, materiellen Eigenschaften. Der Stacheldraht ist nicht nur Abschreckung, sondern auch eine schöne repetitive Form. Dasselbe gilt zum Beispiel auch für Chromosomenstränge, die Beipackzettel von Arzneimitteln und Barcodes. Diese sind nicht nur biologische, pharmakologische bzw. ökonomische Informationsträger, sondern auch eigenständige grafische Inschriften, in ihrer visuellen Konkretheit verfremdend und an einem unerwarteten Ort.


Einige Werke breiten sich mit langen, dünnen Fingern aus wie Wurzeln. Darin nur einen Verweis auf den untersten Teil einer Pflanze zu sehen, ist eine wenig interessante Deutung. Metaphorisch weckt die Wurzel jedoch allerlei Bedeutungen, die auf den „Ursprung“ verweisen: Basis, Quelle, Heimat, Anfang, Grundprinzip, Geburt, Entstehung, Ursache, Fundament. Der Ausdruck „Wurzeln schlagen“ steht für die leidige Situation, irgendwo festzusitzen. Dieser Zusammenhang kann politisch genutzt oder als Form des Chauvinismus und Nationalismus verworfen werden. Wer sagt, er habe seine Wurzeln an einem bestimmten Ort, bringt damit zum Ausdruck, sich dort gerne aufzuhalten, geerdet zu sein und die kulturellen Gewohnheiten zu schätzen. Wenn diese Verbundenheit verloren geht, fühlt man sich „entwurzelt“. Auf die Kausalität verweisend wurde es auch eine Metapher, die weit entfernt ist von den Tafelfreuden einer einfachen Mahlzeit aus Fleisch, Kartoffeln und Wurzeln. Nur wenigen ist klar, dass sie auch dann die beiden Grundmodelle der Kausalität nutzen, nämlich den Monismus, nach dem sich alles auf ein einziges Grundprinzip zurückführen lässt, und den Relationismus, bei dem alles durch die Beziehungen zu anderen Dingen definiert wird. Das grüne Kraut über der Erde steht für die sichtbare Welt und wird doch vollständig durch die orange unterirdische Wurzel bestimmt. Dies beinhaltet ein geradliniges Erklärungsmodell der Realität. Das Rhizom – das Wort ist vom griechischen Wort für Wurzel, rhizoma, abgeleitet – ist ein Bild dafür, dass es keinen eindeutigen Ursprung gibt, mit dem sich das Sichtbare begreifen lässt, sondern eher ein Gewirr und Verzweigungen, bei denen Anfang und Ende austauschbar sind.

Dünne Wurzelketten bilden ein spannendes Formenspiel einer natürlichen Linearität voll kreativer Grillen und plastischer Effekte.


Die Figuren sind hier weniger als in den Malereien von Ulrike Bolenz Porträts bekannter Menschen. Ihre Modelle rekrutieren sich aus einer Gruppe von etwa fünfzehn vertrauten Menschen. Zur Vorbereitung macht sie mit ihnen eine Film- oder Fotosession. Es handelt sich in der Regel um junge, schöne Menschen und ihre Schönheit und Jugend sind nicht zufällig, sondern sinnstiftend. Vergleichen lässt sich dies damit, was die alten Griechen Kalokagathia nannten: Schönheit und ethische Vortrefflichkeit. Aus den bereits erwähnten Gründen handelt es sich in der Regel um Akte als Symbol der Natürlichkeit. Deshalb war es auch so lächerlich, dass die geplante Ausstellung in den Fenstern des schicken Amsterdamer Kaufhauses De Bijenkorf abgesagt wurde, vorgeblich aus Angst vor Vandalismus als Reaktion auf die Nacktdarstellungen. Dies ist nichts anderes als Selbstzensur, eine Art vorauseilender Gehorsam, verursacht durch die wieder erstarkende Prüderie und die Political Correctness, die das Ende jedes freien Denkens ist. Andererseits ist es dies ein Beleg für die Wirksamkeit ihres Schaffens, nicht, um den Radau durch den voyeuristischen Unmut der spießbürgerlichen Passanten zu messen, sondern als Nachweis für die ethische Kraft der humanistischen Botschaft.


Die Fotomontagen auf Polycarbonat umfassen eine schöne hegelsche Dialektik und bringen so Bewegung in die thematische Intention. So bleibt das Risiko außen vor, als ideologische Propaganda zu erscheinen. Die fliegend-flüchtende Frau findet ihre Antithese in der kämpfend-verteidigenden, um zur Synthese der lachend-tanzenden zu gelangen.

Ulrike Bolenz erfüllt zwei Grundfunktionen der modern gewordenen Kunst, in der der Künstler nicht mehr der Bewahrer von Motiven ist, sondern seinen eigenen, anteilnehmenden Blick auf die Welt wiedergibt. Auf diese Weise tritt neben den Philosophen der Wissenschaftler. Der neue Künstler ist nicht mehr Handlanger des Theologen, wie es jahrhundertelang in einer großenteils religiösen und moralisierenden Kunst der Fall war. Die Aufgabe des Künstlers besteht in der Trennung einer kritischen und einer utopischen Dimension.

Die kritische Dimension besteht bei Bolenz in der kämpfend-defensiven Funktion. Ihr Werk darf als bedeutender Beitrag zur feministischen Bewegung durch Kunst bezeichnet werden [8]. Eine der ersten Protestaktionen der Suffragette Mary Richardson (1882–1961), die 1914 einem Akt von Velázquez mit einem Beil zu Leibe rückte, heißt sie nicht gut, dafür liebt sie die Kunst zu sehr. Simone de Beauvoir (1908–1986) jedoch stimmt sie zu: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ – eine Formulierung, die Bolenz stets im Kopf behalten hat. Auch Galionsfiguren wie Judy Chicago (geb. 1939) und Miriam Schapiro (1923–2015), die in den 70er-Jahren so weit gingen, eine Kunstschule zu eröffnen, die keine Männer aufnahm, folgte sie nicht. Die Explizierung der biologischen Eigenheiten der Frau sieht sie ebenso wenig als ihre Aufgabe an wie die Aufwertung typisch weiblicher Medien und Techniken wie Keramik oder Weben. Sie ist ein weiblicher Künstler, ein Mensch, und sie „steht ihren Mann“, um eine frauenverachtende Formulierung zu gebrauchen, die tiefe Wurzeln in der Sprache geschlagen hat und deren Ausrottung noch einige Zeit dauern wird. Die Befreiung vom gesellschaftlichen Druck ist für sie eine humanistische Aufgabe, für die sie sich wappnet und für die sie kämpft. Der Hummer als Streitross ist dafür ein passendes Bild, mit harter Schale und furchterregenden Scheren. Manchmal nimmt sie wie einst d’Artagnan zum Angriff bereit den Degen in die Hand. Wichtig für ihren Feminismus ist, dass sie die Kritik, er sei zu lange ein weißes Problem gewesen, annimmt: Regelmäßig geht sie dagegen an, indem sie Frauen aus aller Welt gleichwertig nebeneinanderstellt. Alle, Männer wie Frauen, gehen nackt und im Gleichschritt auf dem Laufsteg des Lebens.


Der kritischen Funktion der Kunst lässt sich die utopische gegenüberstellen. Die der künstlerischen Kreativität innewohnende ungezügelte Darstellungskraft zeigt uns, wie es besser wäre, so gut, dass es nicht mehr realisierbar ist. Der fliegende Mensch ist eine schöne Metapher für die menschliche Vervollkommnung. Der Flug des Ikarus mit seinen tragischen Folgen ist die zugehörige mythische Erzählung. Flügel ohne Geschlecht bedeuten, dass es um einen Engel geht. Bolenz hingegen zeigt den Unterschied zwischen Mann und Frau deutlich, wenn sie zu Fliegern werden. Dies passt ganz zur differenzierenden Lesart des Feminismus, bei dem die gleichwertige Betonung der Unterschiede an erster Stelle steht – eine Frau muss kein Mann sein wollen, und umgekehrt. An der dekonstruktiven Herangehensweise beteiligt Bolenz sich nicht, Soziologie ist nicht ihr Feld. Sie hat kein Interesse daran, die gesellschaftlichen Faktoren der Geschlechterungerechtigkeit auf künstlerische Weise bloßzulegen. Ihre tanzenden und lachenden Frauen lassen sich als hegelsche Synthese zwischen der Kämpfenden und der Fliegenden begreifen.

Ulrike Bolenz war fasziniert von einer Vorstellung des Brüsseler Tanzensembles Rosas. Die innovative Arbeit der Choreografin Pina Bausch (1940–2009) kannte sie, aber die Produktion von Anne Teresa De Keersmaeker traf sie auf besondere Weise.

Es hat ein bisschen gedauert, bis die Philosophen sich für den Tanz als künstlerisches Medium begeisterten. In der Ästhetik von Kant und Hegel wird der Tanz kaum erwähnt, er galt als gedankenlos körperlich. Es war der Arzt Frederik Buytendijk (1887–1974), der sich als Autodidakt in die Philosophie, genauer die Phänomenologie vertiefte und unter anderem mit Merleau-Ponty korrespondierte. Aus diesem Blickwinkel durchschaute er, dass es beim Tanzen um die Intentionalität des menschlichen Körpers geht. Tanzen heißt, sich des eigenen Körpers bewusst zu werden. Genau dieser Effekt fasziniert Ulrike Bolenz. Merleau-Ponty spricht von der Malerei als „einem Sichtbaren in der
zweiten Potenz“ [9]. Wenn diese Erhöhung auch für den Tanzstil gilt, könnte man diese Malereien als „dritte Potenz“ bezeichnen. Tanz ist keine Reproduktion der Realität, sondern er genügt sich selbst. Das Gemälde nimmt den Tanz mit in eine höhere Sphäre, was nicht heißt, dass er für sich allein einen niedrigeren Aggregatzustand hat. Dies könnte man natürlich immer sagen, wenn ein Choreograf von einer gemalten schrittweisen Bewegung ausgeht. Hier jedoch geht es um eine Intensivierung durch Synästhesie oder durch den von den Postmodernen so geliebten Crossover.


Die lachenden Frauen sind mit den Szenen der Tanzenden verwandt. Im Sommer 2014 ging durch die Nachrichten, dass der türkische Vizepremier Bülent Arinç in einer konservativ-moralisierenden Rede mahnte, dass „Frauen in der Öffentlichkeit nicht laut lachen dürfen“. In Europa war das Öl ins Feuer aller, denen eine Religion, die das Lachen verbietet, angesichts von Charlie Hebdo Sorgen machte. In den traditionellen europäischen Religionen gibt es so etwas wie Pastorenwitze und jüdischen Humor, in dem das Spotten über sich selbst großen Raum einnimmt. Einige Moslems scheinen sich damit schwerer zu tun. Der fromme türkische Politiker wurde von der Opposition zurückgepfiffen und von türkischen Frauen verhöhnt. Ulrike Bolenz griff den Vorfall auf und arbeitete den Aspekt der fröhlichen Frau im Rahmen ihrer feministischen Haltung weiter aus. Im Berliner Dom hatte sie schon 1995 eine Installation mit dem Titel „Die Lachenden“ präsentiert. Anlass war damals ein weitverbreitetes Foto einiger Frauen, die vor Freude lachten, weil sie als Erste in der anglikanischen Kirche zum Priesteramt zugelassen wurden.

Ulrike Bolenz hat die Philosophie des Lachens hier gut begriffen. Diese wird als traditionelles Thema bei der männlichen Suche nach Weisheitsliebe verkannt. Das Lachen ist die Schwester der Wahrheit und wird als Aschenputtel angesehen, die ihre ernste Schwester – wie ihr Name schon sagt – lächerlich macht, indem sie Alternativen suggeriert: Könnte es nicht anders sein als behauptet oder erwartet? Mit dieser Reflexion ist der Wahrheit nicht gedient.

Das Lachen basiert nicht auf niedergeschriebenen Fundamenten, sondern auf der Kontingenz, des Teufels Ruhebank, der Quelle für Atheismus und Antidogmatismus. Unabhängig davon ist das Lachen auch in gewissem Umfang janusköpfig, es hat eine warme und eine kalte Seite. Die Kälte reicht von sanfter Kritik bis zu vernichtender Demütigung, die Wärme von allgemeiner, erfreulicher Sympathie bis zu einer besonders intensiven Verbundenheit des Glücks. Sollte Freundschaft nicht aus dem Zelebrieren der Zusammengehörigkeit zwischen Menschen, die denselben Code teilen und gemeinsam lachen können, bestehen? Ulrike Bolenz verbindet beide Aspekte miteinander: die kritische, distanzierte Selbständigkeit und die Kohäsion einer lebensbejahenden Freude. Würde sie in den Adelsstand erhoben, wäre die in der Philosophie von Spinoza unterstrichene biblische Volksweisheit ein passender Wappenspruch für sie: „bene agere et laetari“, modern und frei übersetzt: „handeln und fröhlich sein“.


Prof. Dr. em. Willem Elias



ENDNOTEN

1. Hughes, V.: Where the first Artists mostly Women?, National Geographic, 10.10.2013.

https://www.nationalgeographic.com/adventure/article/131008-women-handprints-oldest-neolithic-cave-art


2. Nietzsche, F.: Götzen-Dämmerung, oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in idem, Sämtliche Werke, Band 6 (Berlin, Walter de Gruyter & Co, 1980 (1889)), 55–161.


3. Bataille, G.: Lascaux ou la naissance de l’art, in idem, Oeuvres complètes IX (Paris, Gallimard, 1979), 11–101.


4. Stighelen, K. Van der, Huys, Chantal: Vrouwenstreken: vrouwelijke schilders in de Nederlanden (1550-nu), (Amsterdam, Amsterdam University Press; Tielt, Lannoo, 2010), 88–90.


5. Lévinas E.: Humanisme de l’autre homme (Montpellier, Fata Morgana, 1973. Livre de poche, 1987), 60: „… qu’il n’est rien d’autre que la concrétude sensible et absolument singulière d’un existant exposé en la vulnérabilité de sa peau“.


6. Merleau-Ponty, M.: ,l’Oeil et l’Esprit (Paris, Galimard, 1964), 16: „C’est en prêtant son corps au monde que le peintre change le monde en peinture“.


7. Brandi, C.: Le due vie (Roma, Laterza, 1966).


8. Elias, W.: Kunst en Feminisme, in idem, Aspecten van de Belgische kunst na ’45, Deel II (Gent, Snoeck, 2008) 247–265.


9. Merleau-Ponty, o.c., 22: „Alors paraît un visible à la deuxième puissance”.